CÉLESTINE

Zwei Kellerasseln und auf dem Weg nach Sylt!“

 

 

Prolog als Leseprobe

 

Moin, da draußen! Ihr habt Euch also schon durch das Vorwort unseres Autors einstimmen können, um endlich der Frage nachgehen zu können, wer wir sind und was bei uns so abgeht?  Eines solltet Ihr gleich von Anfang an wissen, wir Hamburger Asseln duzen uns, die Leute im Norden sowie. Und im Plattdeutsch kommt das Sie so gut wie nicht vor. Für alle südlich des Weißwurstäquators (WÄ),  an dieser Stelle noch ein kleiner Tipp zum Umgang mit den Nordasseln: “Moin” gilt als freundliche Begrüßung und darf gerne erwidert werden. “Moin, Moin” hingegen gilt schon wieder als “Assel-Gesabbel” oder „Assel-Geschwätz“. Alle anderen, die noch Fragen haben, ist folgende Internetseite hilfreich:

https://www.ndr.de/kultur/norddeutsche_sprache/plattdeutsch/woerterbuch101.html

 

Und umso weiter man nach Norden kommt, scheinen die Prägungen zur dänischen Grenze mit dem kollektiven Duzen zuzunehmen. Es gebe zwar regionale Unterschiede, heißt es. So werde in Nordfriesland und an der Westküste schnell geduzt, in Angeln dauere es allerdings etwas länger. Geografisch begrenzt wird die Landschaft Angeln durch die Ostsee im Osten, durch die Flensburger Förde im Norden, durch die Schlei im Süden und im Westen landläufig durch die weitgehend verlaufende Bundesstraße 76. Grundsätzlich gehe es in aber dörflichen Gemeinschaften schneller mit dem Duzen. Im Norden sei das Duzen sowieso besonders verbreitet. Das werden wir überprüfen, wenn wir hier und da vorbeikommen sollten.

 

Das beinhaltet allerdings nicht, dass wir alle auf einmal Freunde sind. Kürzlich hörte ich zufällig von einem Menschen folgende Erklärung: „Ab tausend Meter Höhe – also in den Bergen auf den Skipisten und Hütten der Alpen und bei NN (Normalnull) an der Nordseeküste bei den Surfern und Kitern wird geduzt. Der Rest muss sich fügen. Falls es Euch stört, legt unsere Reisebeschreibung nach Norden einfach beiseite und lebt trotzdem heiter weiter. Dennoch glaube wir Asseln, dass Ihr als Mensch (>Homo sapiens, lateinisch für „verstehender, verständiger“ oder „weiser, gescheiter, kluger, vernünftiger Mensch“<) laut Wikipedia sehr „wissbegierig und offen“ seid und das Jahr 2025 eine ganze Menge zu bieten hat.

 

 Kurzum, Édouard-Louis – einer der wirklich schönsten Namen für eine Kellerassel – und ich - mein Name ist übrigens Célestine - gehören im Vergleich zu Euch Primaten, zu den Arthropoden (Gliederfüßer) mit einer familiären Verwandtschaft zu den Krebstieren (Crustacea) an der französischen Atlantikküste. Daher auch unsere frankophil anmutenden Namen. Wenn unsere Vetter Jaques und Charles mit ihren Frauen Lulu und Amélie nach Hamburg kommen, wollen sie immer mit La Mer von Charles Trenet statt Hoch im Norden von Udo Lindenberg eingestimmt werden. Und das in Hamburgs "Grüne Lunge", wo wir residieren! Mitten im Herzen der Stadt, umgeben von Einkaufsmeilen, Kongress-Centrum, Messegelände und St. Pauli liegt unsere geile Homebase >Planten un Blomen<. Édouard-Louis wundert sich immer wieder, wenn ich geil sage. Ich mach´s trotzdem! Denn Planten un Blomen ist als Lebensumfeld für Asseln und natürlich auch für Euch Menschen eine wirklich geile Location.

 

Die 45 Hektar große Parkanlage ermöglicht Euch und uns das Verweilen und Verschnaufen in der hektischen Welt. „Weite Rasenflächen, natürlich geschwungene und idyllische Bäche und kleine Seen sowie einzigartig angelegte Themengärten versprechen Pause von der Welt da draußen“ – so zumindest die Marketingexperten der Stadt Hamburg. Die von allen Seiten zugängliche Parkanlage lädt aber auch zu Unterhaltung und Freizeitgestaltung ein. Besonders beliebt sind die sommerlichen Konzerte im Musikpavillon und die farbigen Wasserlichtkonzerte auf dem Parksee, die allabendlich von Mai bis September stattfinden. Für uns immer kostenlos, und mit Premiumplätzen ohne Reservierung in der ersten Reihe, ein wirkliches Highlight. Falls wir unter den tausenden Fußpaaren mit Sneakern, Adiletten oder High Heels etwas sehen und hören können, ohne zerquetscht oder zerstochen zu werden. Die Vielfältigkeit und die zentrale Lage machen den Park für Einheimische und Gäste der Hansestadt gleichermaßen attraktiv – auch für uns Asseln und andere Lebewesen. Insbesondere, wenn man, wie Célestine und ich, sehr an Kultur interessiert sind. Wir sind eine bis zu zwei Zentimeter große und dunkelgrau-bräunlich gefärbte gutaussehende Spezies und in der Evolution in Bezug auf andere Lebewesen, also auch Euch, den Menschen, etwas weiter fortgeschritten. Deshalb auch an Kultur interessiert. Dass ist nicht persönlich gemeint, muss man aber einfach mal so stehen lassen, obwohl es vielen sicherlich nicht gefallen wird. Denn bei einer Umfrage in Deutschland zum Interesse an der Kunst- und Kulturszene bis 2023 lag die Zahl bei rund 7,78 Millionen Personen in der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahre. (de.statista.com).

 

 Vielleicht sehen oder hören wir uns 2025/2026 auf dem Weg nach Norden!

 

Aber von der Kultur zurück zum Alltag. Unser Ursprung als Wasserbewohner ist nämlich noch an unseren Atemorganen erkennbar. An dieser Stelle meiner Ausführungen hüstelt Celestine sehr gerne verschmitzt. Insbesondere bei meinem Bezug zum Menschen und dem Wort Überlegenheit. Und ich weiß gar nicht so recht, wie sie das meint! Aber das ist Teil ihrer und unserer kritischen und liebevollen Kommunikation untereinander. Wir Kellerasseln atmen übrigens einerseits über Einstülpungen an unseren Hinterbeinen, da, wo ihr Menschen Krampfadern habt. Andererseits aber auch über Kiemen, die wir ständig feucht halten müssen. Ihr seht, worauf ich hinaus will. Auf die Feuchtgebiete. Und nein, nicht auf den Roman von Scharlotte Roche. Ich stell mir nämlich gerade vor, mich in einem menschlichen Feuchtgebiet verlaufen zu haben. (K)ein schöner Gedanke, oder? Vielleicht auch für Édouard-Louis nicht, mit dem ich den Gedankengang einmal genauer diskutieren muss. Aber das vielleicht später.

 

Um unsere Lebenswelt für uns zu optimieren, sind wir wirklich auf ausreichende Umgebungsfeuchte angewiesen. Dieser Umstand erklärt sich verschärft, weil wir unseren Chitinpanzer nicht mit einer Wachsschicht gegen die Verdunstung schützen können. In einer trockenen Umgebung trocknen wir einfach aus. Und bei unserem Weg nach Norden, waren wir komplexen Problemen ausgesetzt, die unsere Chitinpanzer immer wieder in einen Ausnahmezustand mit erheblichen Spuren und Kratzern versetzte. Édouard-Louis wurde auf unserem Trip nach Norden im Hamburger Hauptbahnhof von einem Skateboarder fast überfahren und ich bin auf der Rolltreppe nach oben bei einem schnellen Lift mit einem Schuh eines Handlungsreisende beinahe zwischen die Rillen der Rolltreppe an Gleis 10 geraten. Das war knapp. Über die missverständlichen Aussagen zum Schienenersatzverkehr in Elmshorn, als wieder einmal die NOB ausfiel, will ich mich gar nicht auslassen. Dazu aber später mehr. Unsere Brut, das wollte ich ergänzend noch sagen, also die Eier und die frisch geschlüpfte Larven, sind sogar noch stärker von der Feuchtigkeit abhängig. Sie befinden sich am Muttertier – also aktuell bei mir, in einer mit Flüssigkeit gefüllte Bauchtasche. Und auch schwangere Kellerasseln können reisen. Schwangerschaft ist ja keine Krankheit! Wir brauchen nur genug Feuchttücher.

 

Unser Fortpflanzungsverhalten ist übrigens proaktiv. Nach ca. 16 Häutungen sind wir in der Lage, uns wieder fortzupflanzen. An der Bauchunterseite tragen wir kleine Kalziumspeicher. Sind die voll, geht’s ans Häuten. Aber Häutung ist nicht gleich Häutung. Und bei uns schon gar nicht! Schlangen z.B. häuten sich normalerweise am Stück, das heißt sie schlüpfen komplett aus der alten Haut heraus. Bei ihnen wird sogar die Haut über den Augen, der sogenannten Brille, mitgehäutet. Echsen hingegen häuten sich normalerweise nach und nach in einzelnen Fetzen. Einige Arten fressen die alte Haut dann umgehend auf, um die darin enthaltenen Inhaltsstoffe noch zu nutzen. Wir Kellerasseln setzen da allerdings auf Einzigartigkeit. Wir häuten uns in zwei Schritten. Erst das Hinterteil, dann der Kopf und dann sind wir für die Party der Geschlechtersuche bereit. Und das geht verhältnismäßig schnell, da wir äußerst gesellig und kommunikativ sind. Man kann sich das so vorstellen, wie in einem Swinger-Club. In wissenschaftlichen Versuchen, dauerte es wenige Minuten, bis Asselpaare sich zu Gruppen zusammenschlossen und sich dabei feucht verschmolzen haben. Ihr zieht Euch ja auch mehrfach um, glüht vor, um dann schließlich auf Beutefang zu gehen. Oder?

 

Bei solchen ekstatischen Gruppentreffen muss man allerdings wachsam und aufmerksam sein und seine Triebe unter Kontrolle haben. Ihr übrigens auch, denn so manche wurde bei ihren kreativen Exzessen mit dem Smartphone gefilmt und bei Insta oder TikTok veröffentlicht. Unsere  Zuschauer und Fressfeinde wie Igel, Frösche, Eulen und Echsen sind bei solchen Partys gerne aktive Voyeure mit großem Appetit. Bei einer solchen Zeremonie hätte ich Édouard-Louis einmal beinahe an einen Frosch bei Planten un Blomen verloren. Er zeigte ihm allerdings seinen Chitinpanzer als Kugel, an der der Frosch beinahe erstickt wäre und er ihn spontan wieder ausspucken musste.  Was für ein Gequake. Der Frosch hat sich die Seele aus dem Hals gehustet und ist dann ganz schnell watscheln hüpfend abgetaucht. Zurück blieben nur seine feucht-klebrigen Silhouetten der Froschfüße. Neidisch schielen Kellerasseln und ihre Wissenschaftler auf Frösche, die mit Leichtigkeit an glatten Blättern emporklettern. Die klebrigen Füße der Tiere haben Eigenschaften, die man sich für Tesafilm nur erträumen kann: Sie haften stark, können unendlich oft gelöst und wieder aufgeklebt werden und reinigen sich zu guter Letzt sogar von allein. Das Half ihm allerdings nicht viel, beim Verschlucken von Édouard-Louis. Der gerollte  Chitinpanzer wirkte wie eine verschluckte Reibe.

 

Unsere Freude des Wiedersehens war überwältigend groß. Dennoch gibt es hier und da doch auch erhebliche Verluste. Aber das kennt der Homo Sapiens ja auch! Von den weltweit 55,4 Millionen Todesfällen im Jahr 2019 waren mehr als die Hälfte (55,4 Prozent) auf die zehn Haupttodesursachen zurückzuführen.

 

Ischämische Herzkrankheiten (Die ischämische Herzkrankheit (KHK) ist eine Erkrankung, bei der es zu einer Sauerstoff-Minderversorgung des Herzmuskels aufgrund einer Verengung der Koronararterien (Herzkranzgefäße) kommt. Sie wird auch als chronische ischämische Herzkrankheit (CIHK) bezeichnet. In Deutschland leiden etwa 1 Millionen Menschen an einer koronaren Herzkrankheit. Sie stellt die häufigste Todesursache dar. ) waren in diesem Jahr für rund 8,89 Millionen Todesfälle verantwortlich und damit weltweit die häufigste Todesursache. Die Weltbevölkerung ist im Jahr 2023 um knapp 66 Millionen Menschen gewachsen. Ende Dezember lebten 8,073 Milliarden Menschen auf der Erde, wie die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW) mitteilte. Das sei zwar ein Rekordwert, das Wachstum verlangsame sich aber seit dem Höchststand zwischen 1965 und 1970 kontinuierlich. 2020 sank die Wachstumsrate erstmals seit 1950 auf unter ein Prozent. Derzeit liegt sie bei 0,8 Prozent pro Jahr. Ein wichtiger Faktor für die Entwicklung der Weltbevölkerung ist die Geburtenrate. Sie ging in vielen Regionen der Welt zuletzt zurück. Nach DSW-Angaben liegt sie derzeit weltweit bei durchschnittlich 2,3 Kindern pro Frau. Damit hat sich die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau seit den 1960er-Jahren mehr als halbiert.  Um Euch das einmal aus der Sicht einer emanzipierten Asselfrau aufzuzeigen.

 

Wir machen hier allerdings Verluste durch eine hohe Reproduktion wieder wett. Bis zu 90 Eier trage ich nach der Befruchtung am Leib. Stürmisch allerdings sind wir in der Vorfreude des Kopulierens nicht. Ich spreche jetzt einmal aus dem Nähkästchen.  Unser Ritual beginnt mit dem Winken der Fühler.  Anschließend krabbelt   mit seinen Vorderbeinen auf meinen Chitinpanzer-Rücken. Kellerasselmännchen sind dabei echte Stellungskünstler und basteln sich diagonal auf den Rücken des Weibchens eine Position. In diesem Beispiel aus Sicherheitsgründen von beiden Seiten auf einmal. Ich habe nämlich zwei Genitalöffnungen. Aber nicht weitersagen. Und dann heißt es heißt es: für wenige Minuten stillhalten. Der Rest ist „Honi soit qui mal y pense!“

 

So, und jetzt seid Ihr dran. Erzählt mal! Wenn einem Weibchen von uns diese Prozedur zu kompliziert ist, kann sie auf Männchen aber auch verzichten. Ich stehe allerdings noch auf Édouard-Louis.Auch im Alter, wo das Erklimmen des Rückens hier und da etwas schwerer wird.  Aber das ist gut so. Und wir haben ja noch etwas Zeit, unser Leben zu genießen, wie jetzt zum Beispiel auf dem Weg nach Norden. Édouard-Louis und ich haben im Vorfeld eine Bucket-Liste, der Sehenswürdigkeiten angefertigt, die für Schleswig-Holstein von besonderer Bedeutung sind. Bucket List (von engl. „kick the bucket“, dt. etwa „den Löffel abgeben“, daher deutsch auch Löffelliste genannt) steht für: eine Liste mit Dingen, die man im restlichen Leben gerne noch tun oder erreichen möchte. Nicht dass wir unser Leben aufs Spiel setzten wollen, aber die Reise nach Norden birgt doch schon einige Gefahren. Dazu müssen wir nämlich unsere angestammten dunklen und feuchten Plätzen, z.B. versteckt unter Töpfen, Steinen, im Laub oder in verrottendem Holz als Komfortzone verlassen, um uns dem Abenteuer Sylt zu stellen.

 

In der freien Natur sind es Sträucher oder die Streuschicht im Wald, unter denen wir Asseln Party machen. Dabei achten wir darauf, dass unsere  Nahrungsquelle in der Nähe unserer Housing Area liegt. Abgestorbenes, bereits vermodertes Pflanzenmaterial und Holz sowie Pilzgeflecht sind unsere absoluten Feinkost. Lebende Pflanzen sind dabei weniger interessant. Dry und feucht aged ist unser Dogma. Durch das Zerkleinern und Verdauen der abgestorbenen Pflanzenteile wird Humus gebildet und enthaltene Nährelemente werden freigesetzt und für Pflanzen wieder nutzbar. Wir Asseln sind nicht gerade Gourmets. Wir ernähren uns, wie oben schon beschrieben, von Resten der Umwelt, die zu Humus zersetzt werden müssen. Da die Nahrung in unserem Darm nur unvollständig verdaut wird, fressen wir unseren eigenen, stark zellulose- und ligninhaltigen Kot mehrmals wieder auf, um die darin enthaltenen Nährstoffe weiter zu verwerten. Das hört sich vielleicht nicht gerade appetitanregend an, ist aber äußerst effektiv!

 

Wir sind neben unseren ökonomischen Aktivitäten rund um Hamburg dennoch weiterhin die Nützlinge von Planten un Blomen, nämlich den Nährstoff- und Kohlenstoffkreislauf in der Natur zu optimieren. Abgesehen von unserer Tätigkeit als Destruent stehen wir allerdings selbst auch als Teil der Ernährung von größeren Tieren auf deren kulinarischem Verlangen.  Spitzmäusen, Igeln, Spinnen und Vögeln gehen wir deshalb gerne aus dem Weg. Sollte es dennoch zu einer Attacke kommen oder der Verdunstungsprozess zu groß sein, sind wir kurzfristig in der Lage, uns zu Kugeln zusammenzurollen. Das sieht dann fast witzig aus, wenn Édouard-Louis sich zusammenrollt und eine Spitzmaus versucht seinen Chitinpanzer zu knacken. Im wahrsten Sinne eine harte Nuss und ohne Erfolg.

 

Nicht nur der Waldboden ist unser kreatives Spielfeld, auch der Garten hinter Eurem Haus und sogar die Balkonkästen sind vor uns nicht sicher. Unser Abenteuerspielplatz ist die Welt. Zwar empfinden einige Menschen Ekel bei unserem Antreffen. Ich verstehe das nicht, denn Édouard-Louis hat so schöne Augen, vergleichbar mit der Schlange K im Dschungelbuch, gefährlich sind wir aber nicht. Wir übertragen keine Krankheiten auf Menschen, also nicht bewusst, wie Édouard-Louis immer wieder sagt. Und natürlich auch nicht auf Pflanzen. Theoretisch könnten wir sogar gefahrlos verspeist werden und schmecken dann offenbar immer etwas nussig, wie Speiseforscher erklären. Für einige Tester, die unsere 14 Beinchen auf der Zunge verspüren, ist das allerdings ganz schön gewöhnungsbedürftig. Es scheint ganz einfach. Eine Handvoll Asseln in Maismehl wenden und kurz in die Fritteuse bis sie knusprig sind. Dazu eine Safranmayonnaise und der Genuss kann kommen. Umgekehrt sind wir allerdings auch kleine Gourmets und besonders an Kartoffeln mit dem feinen vergammelten hautgout interessiert. Ein Keller mit fauligen Kartoffeln wird zur geilen Party. Insgesamt gibt es von unseren Familien etwa 3.500 Asselarten. So, jetzt könnt Ihr selbst hochrechnen, ob wir Millionen oder Milliarden sein könnten! Die ältesten fossilen Familienmitglieder sollen jedenfalls 50 Millionen Jahre alt sein. Da die wichtigsten Clans aber auf allen Kontinenten zu finden sind, müssen sie sich entwickelt haben, bevor die Kontinente auseinander drifteten – also vor rund 160 Millionen Jahren. Na, das ist doch mal eine Zahl. So, Mensch! Und jetzt kommts Du mit Deiner Familiengeschichte. Wann war das noch einmal mit dem aufrechten Gang?

 

 „Würde man die gesamte Erdgeschichte in einen 24-Stunden-Tag pressen, dann würde der moderne Mensch erst zwei Minuten vor Mitternacht als neue Art auftauchen“ las ich kürzlich in einem Wissenschaftsmagazin. Ja, Asseln können lesen und sprechen und sind außergewöhnlich klug. Vor mehr als 3,5 Milliarden Jahren entwickelte sich das Leben auf der Erde, doch erst vor sechs Millionen Jahren begann ganz allmählich die Entwicklung von Euch. Da haben wir schon destruiert, falls Ihr noch wisst, was das heißt. Vor etwa zwei Millionen Jahren taucht als frühe Form des Menschen in Afrika auf die Bühne des Lebens und habt versucht, das Feuer zu zähmen. Einige Tausend haben sich da ganz schön die Finger verbrannt. Ein Teil eurer Sippen hat ja auch lange gebraucht, um dem Zusammenhang zwischen giftigen Pflanzen, verdorbenem Mammutfleisch und euren frühen Tod zu erkennen, bevor das Feuer zum Konservieren eingesetzt wurde, oder?

 

Ursprünglich sind wir Asseln in Europa heimisch, haben aber Verwandtschaft  fast in der ganzen Welt. Also sicher auch in Afrika, Eurer Geburtsstätte. Wir sind, wie so manche Chronisten schreiben, kleine, räudige Schweinchen (lateinisch: Porcellio Scaber), was eingedeutscht so viel wie Kellerassel bedeutet. Wir sind wahre Kosmopoliten und leben abgesehen von der Antarktis deshalb auf allen Kontinenten der Erde. Zum Glück. Zwar scheinen wir dabei weder ansehnlich noch besonders appetitlich zu sein, dafür aber ungemein nützlich. Im allumfassenden Stoffkreislauf machen wir Asseln Eure Drecksarbeit. Unermüdlich durchwühlen Heerscharen von uns die oberen Bodenschichten, um als Destruenten – was für ein toller Name und da kann sich Arnold Schwarzenegger mit seinem Terminator warm anziehen – die Erde umzupflügen. Für die, die es genauer wissen wollen: „Destruenten [von latein. destruens = zerstörend] oder Dekomponenten, Zersetzer, Mikroorganismen, die organische Ausscheidungsprodukte der Organismen und die beim Tod der Lebewesen anfallenden organischen Substanzen abbauen und in einfache anorganische Verbindungen überführen, so dass sie der Natur wiederum als Nährstoffe dienen können“. Das ist doch einmal eine perfekte Beschreibung unseres Seins, oder? Hat mir einer von den Wikis erzählt. Und was macht Ihr? Verglichen mit den Dinosauriern ist der Mensch als Homo sapiens, wie ich oben schon beschrieben habe, erst seit Kurzem auf der Erde unterwegs: Rund 300.000 Jahre tragt ihr durchgedrücktes Rückgrat. Einige von Euch laufen allerdings seit Generationen noch ziemlich gekrümmt. Schaut Euch mal die Moorleichen in Schloss Gottorf an. Die sehen aus wie große Asseln, oder? Und wenn ich von Homo sapiens spreche, lächelt Edouar-Louis verschmitzt.

 

Das ist der Grund, warum wir auf dem Weg nach Norden sind. Für alle, die fragen werden, warum wir nicht nach Süden in den Schwarzwald oder an den Bodensee wollen, antwortet Édouard-Louis gerne mit einer klassischen Asselphrase: „Weil ich noch nicht an der Nordsee war – und das muss reichen!“ Wir haben also beschlossen, das Abenteuer zu wagen und unsere Komfortzone bei Planten un Blomen zu verlassen, obwohl wir die grüne Oase mitten in der Stadt genießen und uns an den verschiedenen Schaugärten, Skulpturen und Pflanzen erfreuen. In allem stecken nämlich 200 Jahre Parkgeschichte und sogar 400 Jahre Stadtgeschichte. Ein Glücksfall für Generationen von Asseln, die sich dort sauwohl fühlen. Und wir machen uns auf den Weg. So, liebe Leserin, lieber Leser, jetzt bist Du gefragt. Berechne unsere Reisegeschwindigkeit und gib eine Prognose ab, wann Édouard-Louis und ich auf Sylt ankommen werden. Du musst Dich dabei allerdings mit Kinesis (Biologie) beschäftigen, eine Bewegung oder Aktivität einer Zelle oder eines Organismus als Reaktion auf einen Reiz. Und die Aktivität von uns Asseln nimmt mit zunehmender Luftfeuchtigkeit ab. Feucht ist unsere Komfortzone, da bleiben wir gerne. Und das wird auf unserer Reise ein Problem. Denn in einem ICE, dem ÖPNV oder per Anhalter in einem Auto ist oft Trockenheit angesagt. Und das kann uns Probleme machen. Und dann kommt noch unsere Bucket-Liste, oder genauer gesagt, Édouard-Louis` persönliche Liste dazu. „Wir müssen unbedingt die Schwebefähre am NOK nehmen. Sie bringt in besonderer Weise die beiden Ufer des Nord-Ostsee-Kanals zusammen. Dieses einzigartige Fahrzeug feierte im Jahr 2013 seinen 100. Geburtstag und ist heute eine der Sehenswürdigkeiten in SH.

 

Und natürlich Helgoland im Sonnenuntergang, die Mumien in Schloss Gottorff, eine Kanalfahrt in Friedrichstadt und letztendlich Sylt ergänzen ihre Liste. Und, wie ich es immer wieder liebevoll sage: „Wir wollen Schleswig-Holstein einfach mal erschmecken!“ Und mit dem Entdecken regionaler Geschmäcker will ich auch einen Teil meiner Bucket-Liste füllen. Und nur vom Erde Umpflügen und Zersetzen von Mikroorganismen zu reden, ist mir zu wenig. Und ein wenig Genuss sollte man Asseln schon zugestehen. Insbesondere mir. Völlig unsortiert fallen bei meiner  Reise-Recherche folgende Rezepte auf, die ich auf dem Weg nach Norden zum Teil abarbeiten will:

 

Rote Grütze – Omas Klassiker, „Sylter Austern“, Kartoffel-Erbsensuppe mit Speck und Mettwurst, Krabbensuppe, Kartoffeln mit Krabben und Quark, Granatbrot mit Krabben und Ei, Ziegenkäse im Katenschinkenmantel, Hausgebeizter Lachs, Seemanns-Labskaus, Marinierter Ziegenkäse, Deichlamm-Karree mit Wiesenkräuterkruste, Eiskaffee „Pharisäer Art“, Grünkohl – die friesische Palme mit dreierlei Schweinefleisch, Räucherfischsalat, Matjes mit Bohnen und Speckstippe, Matjes in Apfelgelee mit Schnittlauchdip, Frikadellen mit gestovtem Spitzkohl, verschleiertes Bauernmädchen (farbige Schichtspeise mit Quark), Friesentörtchen, Birnen, Bohnen und Speck, Rühreibrot mit Kieler Sprotten, Föhrer Muscheltopf (Geschlossene Gesellschaft), Kohlpudding, , Maischolle mit Speckstippe, Schnüsch, Bratkartoffeln mit Sauerfleisch, Schnitzel Holsteiner Art, Himmel und Erde, Steckrübeneintopf, Brathering im Pfeffer-Kräuter-Sud, Schmorgurken mit Räucheraal, Dicke Bohnen mit Helgoländer Hummer, Schellfisch mit Senfsoße, Heringssalat usw.

 

Ein weiteres Problem kommt noch hinzu, denn Édouard-Louis hat kürzlich ein Dossier über die Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) als ein „globales Ziel zur Förderung nachhaltigen Friedens und Wohlstands und zum Schutz unseres Planeten“ gelesen, was wir ebenfalls auf der Reise nach Norden gerne überprüfen wollen. Als Assel? Ja, gerade deswegen, weil wir den Menschen ja überlegen sind, wenn wir den gemeinsamen Evolutionsprozess betrachten. Mit dem Wort Überlegen geht er allerdings noch sehr zögerlich um. Manchmal glaube ich allerdings, er hat zu viel Pilzsporen geraucht. Letztens las er noch so nebenbei einen Artikel in der Wochenzeitung >Die Zeit< über das Thema Heiterkeit, weil er beobachtete, dass immer mehr Menschen äußerst angespannt und unzufrieden durch das Leben laufen. Er zitierte dabei auch folgendes aus dem Artikel „Wolkig aber heiter“ von Axel Hacke. Aber auch das klären wir, wenn wir nach hoffentlich viel Erfahrungen und Erkenntnisse über den Zustand unserer Mitbewohner auf der Erde gesammelt haben und dann wieder in unserer Komfortzone dem Teich bei Planten un Blomen in Hamburg zurück sind. Und das wird wohl eine Weile dauern, zumindest bis zum letzten Kapitel, das hoffentlich zum Jahresende 2026 komplett ist.